Projekt: Reportage

Branche: Medien

Firma: stern.de

Funktion: freier redaktioneller Mitarbeiter

Fünf Sterne und ein Halleluja

Im Schweizer Kanton Graubünden stehen Gäste vor einer schwierigen Wahl: Im Fünf-Sterne-Hotel im Luxus zu schwelgen oder im Design-Hotel auf der Höhe der Zeit zu sein. stern.de-Mitarbeiter Daniel Hopkins konnte sich nicht entscheiden.

Giancarlo ist kein Mann großer Worte. Schweigend sitzt er hinter dem Lenkrad der schwarzen Luxuslimousine, die er geschickt durch die engen Straßen von Arosa lenkt. Arosa, bei diesem Namen klingelt es in meinen Ohren: malerisch gelegener Ort im Schweizer Kanton Graubünden und Topadresse der Wintersportler – vor allem für Besserverdiener. Der 42-jährige Giancarlo chauffiert die Gäste des Tschuggen, welches zu den besten Hotels der Welt zählt, an jeden beliebigen Ort. Seine Fahrt führt ihn dieses Mal vom Aroser Bahnhof hinauf ins Hotel. Ich genieße die Stille auf dem Rücksitz des großen Mercedes und erinnere mich ein paar Tage zurück – an meine Ankunft in Savognin, nur wenige Berge weiter.

Das kleine Dorf ist das erste Ziel meiner Reise. Genauer gesagt das Cube Hotel: ein würfelartiges Gebilde, das seit über anderthalb Jahren mit seiner futuristischen Optik das Bild vom kleinen idyllischen Skidorf sprengt. Der Klotz ist das “Tschuggen” unter den Jugendherbergen, da insbesondere bei Jugendlichen und jungen Familien eine beliebte Unterkunft. Doch einen Fahrservice, der die Gäste von der Postbusstation die langgezogenen Serpentinen hinab ins Tal zur Herberge fährt, sucht man dort vergebens. Wer zur Nebensaison anreist, in der Schnee lediglich die Postkarten ziert, darf nicht auf den sonst regelmäßig fahrenden Shuttle-Service der Gemeinde hoffen. Pech für mich: Es ist Nebensaison und weit und breit kein Schnee in Sicht. Das einzige, was an diesem Tag noch fährt, sind die abgenutzten Kunststoffräder meines etwa 30 Kilo schweren Hartschalenkoffers. Wäre ich es nicht bereits, so bin ich es spätestens nach meiner Ankunft im Cube: urlaubsreif.

Jede Niete verdient das Prädikat “deluxe”

Hier in der Nobel-Karosse gefällt es mir hingegen deutlich besser. Meine in Savognin strapazierten Arme baumeln lässig auf den perfekt verarbeiteten Ledersitzen. “Ist es noch weit bis zum Hotel”, frage ich den Fahrer. “Nein, mein Herr, wir sind gleich da”, antwortet der wortkarge Mann und deutet auf ein mehrstöckiges Gebäude, dessen Fassade an ein Relikt aus den 50er Jahren erinnert. Diesen Schönheitspreis gewinnt das Cube in Savognin, denke ich mir. Die Enttäuschung über das mangelnde Charisma der Tschuggen-Fassade hält aber nicht lange an. Denn das Fünf-Sterne-Plus-Haus überzeugt vor allem mit seiner inneren Erscheinung. Hier verdient jede Niete an den Sitzen, jede Falte in den Vorhängen das Prädikat “deluxe”. Jedenfalls wirkt es so.

Mein Blick wandert durch die Hotellobby. Ich hatte mit einer Reihe betagter und gut betuchter Gäste gerechnet, die Lebensweisheiten austauschen, während sich ihre Begleiterinnen im Wellnessbereich austoben. Ich würde im Tschuggen sicher auffallen wie ein bunter Hund. Ein knapp 30-Jähriger in einem 100-Euro-Anzug von der Stange, das fällt doch auf, war ich mir sicher. Doch Fehlanzeige. Ein junges Paar in Jeanskleidung kommt mir entgegen. Sie lächeln und sie wirken entspannt. Im Hintergrund höre ich Kinderstimmen. Sogar ein kleiner weißer Hund trottet mit seinem überaus attraktiven Frauchen an mir vorbei. Das Unbehagen, an diesem exklusiven Ort schon allein wegen eines Altersunterschieds aufzufallen verflüchtigt sich im Nu. “Willkommen im Tschuggen. Wir freuen uns sehr, sie bei uns im Haus als Gast begrüßen zu dürfen.” Die überaus freundlichen, aber in keiner Weise aufgesetzten Worte des Concierge beseitigen jeden Zweifel: Das Tschuggen hält, was es in seiner Empfangsbroschüre verspricht: “Endlich zu Hause.”

Architekt mit krankhafter Abneigung gegen runde Formen

Nicht minder freundlich empfängt man mich ein paar Tage zuvor auch im Cube. Nur mit dem Unterschied, dass ich dort einen Pfand für die Zimmerschlüsselkarte hinterlegen und mein Gepäck selbst in mein Schlafgemach schleppen muss. Spätestens in den “Boxes”, wie die Betreiber des Cubes ihre Zimmer nennen, ahne ich: Der Architekt des Würfels scheint eine krankhafte Abneigung gegen runde Formen zu haben: angefangen bei der Decke, die unbehandelt als Betonhorizont den Himmel des Zimmers ziert, bis hin zu den quadratischen Milchglasfenstern, die in den Abendstunden wechselnd in grün, blau, rot, gelb und violett strahlen und die Farben an die nüchtern in weiß gehaltene Zimmerwand werfen. Das Cube bietet tatsächlich nur das Nötigste. Kein “Schnick-Schnack” wie etwa ein eigener Safe für Wertsachen, kein Geschirr und kein Obstteller gehören zum Inventar des Zimmers – sogar auf eine Minibar wurde verzichtet. Dafür hört man mit viel Glück die Gläser in der Lobby klirren, wo die Gäste sich auf das Aprés-Ski einstimmen. Später begleitet der leicht wummernde Bass aus der hoteleigenen Diskothek das Gläserklirren und verleiht der Atmosphäre den Charme eines Hotels am Rande der Ballermann-Meile auf Mallorca. Die Jugendlichen lieben das. Es heißt Spaß, es vermittelt Kontaktfreudigkeit.

Ruhe balsamiert die Seele

Lärmemissionen sind im Tschuggen hingegen kein Thema. Die Zimmer sind nahezu schalldicht. Mein Blick hinaus auf die Berge wird dieses Mal nicht durch Milchglasscheiben getrübt. Im Gegenteil: Erst vor kurzem eröffnete die Tschuggen-Bergoase. Ein Wellness-Tempel mit Rundumbetreuung für die Gäste. Wohlfühlen pur. Mit dem neuen Angebot möchte das sonst nur im Winter betriebene Luxushotel die Gäste auch im Sommer in ihre Gefilden locken.

Im Cube zieht es die Gäste zu Schneezeiten mit ihren Skiern und Snowboards auf den weißen Berg. Im Sommer hingegen schwingen sie sich auf ihre Mountain-Roller oder erwandern sich die Landschaft mit ihren Bikes. Und sollte das Wetter wider Erwarten die Pläne der Sommer- oder Wintersportler durchkreuzen, gibt es genug Alternativen: An einer der Multimedia-Stationen im Haus kann man zum Joystick greifen und der Spielleidenschaft freien Lauf lassen oder im Keller die Saunalandschaft mit einer großzügig eingerichteten Ruhezone genießen. An einer Betonmauer auf halbem Weg ins Untergeschoss installierten die Hotelbetreiber gar eine Kletterwand. Nein, langweilig kann es einem im Cube nicht werden.

Reizvolle Destinationen für die Zielgruppen

Am Tag meiner Abfahrt lasse ich den Chauffeur Giancarlo während der Fahrt zum Aroser Bahnhof noch einmal an meinen Eindrücken vom Cube und Tschuggen teilhaben. Zwei Luxusherbergen in zwei verschiedenen Kategorien. Gewappnet für die schneefreie Zeit, die sich angesichts des Klimawandels immer weiter ausdehnt. Zudem sind beide ausgesprochen reizvolle Destinationen für die entsprechenden Zielgruppen. Und trotzdem werde ich das Gefühl nicht los, dass es doch sicher noch besser geht. Was sind denn schon fünf Sterne?
“Wissen Sie, Giancarlo”, sage ich und breche damit das ungeschriebene Stillschweigeabkommen mit dem Fahrer. “Wissen Sie, was der Schweiz fehlt?”, frage ich ihn. “Es ist ein Hotel, das den Luxus und die Ruhe des Tschuggen, aber gleichzeitig auch den Spaß und die Unkonventionalität des Cube-Hotels bietet”, sage ich. Giancarlo reagiert nur mit einem kleinen Lächeln auf meine Einlage und steuert geradewegs auf den Bahnhof zu. Er parkt die Limousine direkt am Bahnsteig, hievt meinen Hartschalenkoffer mit den defekten Rollen aus dem Kofferraum und verabschiedet mich freundlich mit den Worten: “Auf Wiedersehen in Arosa, mein Herr. Beehren Sie uns bald wieder.” Ich sage ja, Giancarlo ist ein wortkarger Geselle, wenn er es sein muss. Und das ist manchmal mindestens sechs Sterne wert.